Archiv des Ortes
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Die Fotosammlung Ortsansichten der Graphischen Sammlung der Schweizerischen Nationalbibliothek

Die Fotosammlung zum Thema Ortsansichten der Graphischen Sammlung der Schweizerischen Nationalbibliothek gehört zu den grössten und bedeutendsten ihrer Art in der Schweiz. Auftrag und Ziel der fotografischen Sammlung Ortsansichten ist es, bedeutsame Orte ins Bild zu rücken bzw. Ansichten von Landschaften und Orten zu sammeln, die einen landestypischen und Identifikation stiftenden Stellenwert besitzen. Die Sammlung weist Bildmaterial von (Stadt-)Landschaften sämtlicher Kantone der Eidgenossenschaft auf, beginnend mit der Druckgrafik des 17. Jahrhunderts, der Pionierzeit der Fotografie sowie der Ansichtskartenproduktion seit Ende des 19. Jahrhunderts. Lücken weist die Sammlung für den Zeitraum seit 1945 auf.

Sichtung der Bilder zum Oberengadin und zum Limmattal

Zu Beginn des Forschungsprojektes «Archiv des Ortes» untersucht das Team der Zürcher Hochschule der Künste, wie Ort und Landschaft in der Sammlung Ortsansichten der Graphischen Sammlung der Schweizerischen Nationalbibliothek dokumentiert werden. Analysiert wird das Bildmaterial, das zum Oberengadin und zum Limmattal in der Sammlung vorhanden ist. Die beiden Regionen werden im Hinblick auf die Bildrecherche Schlieren und Oberengadin ausgewählt.
Ausgangspunkt bilden folgende Fragen:
- Welche Motive und Bildgegenstände zu Ort und Landschaft sind in den Bildern der Sammlung enthalten?
- Welche fotografisch-ästhetischen Strategien werden eingesetzt?

Digitalisierung

Eine Auswahl von ca. 500 Bildern aus je drei bzw. vier Gemeinden aus den beiden Regionen (Limmattal: Schlieren, Dietikon, Wettingen; Oberengadin: Maloja, St. Moritz, Samedan, Zuoz) wird in der gleichen Grösse und Auflösung digitalisiert. Die Fotosammlung Ortsansichten ist historisch gewachsen und besteht aus mehreren Sammlungsteilen aus unterschiedlichen Zeiträumen. Durch das Digitalisieren treten die Unterschiede bezüglich Grösse, Tonigkeit, Materialität und Erhaltungszustand der Abzüge in den Hintergrund. Dies ermöglicht einen direkten Vergleich der fotografischen Strategien. In der Betrachtung der digitalisierten Bilder entsteht ein Bilderfluss, der die Analyse von Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern ermöglicht und die in der Sammlung dominierende Sichtweise auf Ort und Landschaft hervortreten lässt.

Analyse

Ein Raster von vier unterschiedlichen Bildtypen zieht sich durch sämtliche Sammlungsteile der Fotosammlung Ortsansichten sowie den gesamten Entstehungszeitraum hindurch. Diese Bildkategorien ergeben sich aus der Wahl der Sujets und der fotografisch-ästhetischen Strategie und sind unabhängig von Format und Bildträger. Die Bildtypologie wird im Folgenden kurz dargestellt.

Gesamtansichten

Aufgenommen von einem erhöhten Standpunkt oder aus der Luft. Diese Bilder zeigen den Ort aus der Distanz, eingebettet in die umgebende Landschaft. Nach Möglichkeit wird versucht, in einer Fotografie jeweils den ganzen Ort zu erfassen. Von grösseren oder bedeutenden Orten sind jeweils mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Richtungen vorhanden.

Teilansichten

Aufgenommen auf Augenhöhe oder leicht erhöht. Der Aufnahmestandpunkt befindet sich ausserhalb des Ortes. Gezeigt werden einzelne Ortsteile sowie die angrenzende Landschaft: Ensembles von Gebäuden, gruppiert um markante Bauwerke wie Kirchen, grosse Hotels, Bahnhofgebäude etc. In der Regel sind mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Himmelsrichtungen vorhanden.

Stadt- und Dorfpartien

Aufgenommen auf Augenhöhe, der Aufnahmestandpunkt befindet sich im Ort. Die Bilder zeigen Hauptstrassen, Gassen und Plätze, Strassenzüge, angrenzende Wohnhäuser, Läden, Restaurants, Passanten und Fahrzeuge. Bei kleineren Orten werden nur Hauptgasse, Hauptstrasse oder Dorfplatz fotografiert, bei grösseren sind Ansichten verschiedener Strassen vorhanden.

Einzelne Gebäude

Standpunkt auf Augenhöhe. Zu sehen sind bezüglich Nutzung und Architektur bedeutsame, markante Einzelgebäude: Kirchen, Bahnhof, Hotels und Restaurants, Schulhäuser, Post, Spital, vereinzelt Fabrikgebäude und Wohnhäuser. Die Anzahl der fotografierten Gebäude pro Ort variiert, Kirche und Bahnhof werden am häufigsten abgebildet.

Aufnahmetechnik

Es werden Mittel- und Grossformatkameras verwendet. Der Schärfentiefenbereich erstreckt sich über den gesamten Bildraum. Stürzende Linien von Gebäuden werden geradegestellt, Vertikalen und Horizontalen verlaufen parallel zum Bildrahmen. Fotografiert wird auf Schwarzweiss-Negativfilme oder Glasplatten. In der Postkartensammlung der Graphischen Sammlung sind auch Farbbilder vorhanden.

LichtfĂĽhrung und Jahreszeit

Fotografiert wird bei Sonnenlicht. Die Szenerie ist möglichst vollständig und gleichmässig ausgeleuchtet, dramatische Licht- und Schattenwirkungen werden vermieden. Die Bilder werden im Sommer aufgenommen, im Oberengadin zudem auch im Winter, bei vollständig schneebedeckter Landschaft.

Komposition und ästhetische Wirkung

Der Bildaufbau beruht auf dem klassischen Modell der Landschaftsdarstellung, das sich aus der abendländischen Malerei ableitet. Der Bildraum ist in Vordergrund – Mittelgrund – Hintergrund gegliedert. Aus der Anordnung der Bildelemente ergibt sich ein Eindruck von Dreidimensionalität und räumlicher Tiefe. Der Bildraum ist auf einen Betrachterstandpunkt hin organisiert: Der fotografierte Raum und die dargestellten Gegenstände werden dem Betrachter zur Ansicht dargeboten. Das Bild vermittelt eine repräsentative Ansicht einer intakten Landschaft. Gebäude, Strassen, Wege etc. sind gepflegt und instand gehalten. Ort und Landschaft wirken ruhig, harmonisch und wohlgeordnet. Die Fotografien vermitteln einen Eindruck von vollständiger Sichtbarkeit: Die Objekte sind scharf, bis ins Detail durchgezeichnet und so angeordnet, dass sich der Blick von einem Bildgegenstand zum nächsten bewegen kann, ohne anzustossen oder abgelenkt zu werden. Der Aufnahmestandpunkt ist so gewählt, dass möglichst nichts in Bild tritt, was einer repräsentativen fotografischen Darstellung zuwiederläuft.

Nutzung von Ort und Landschaft

Gesamt- und Teilansichten zeigen, wie sich Siedlungsgebiet und umgebende Landschaft zueinander verhalten. Neben Gebäuden sind auch Strassen, Wege, Eisenbahnlinien, Strommasten, Verkehrs- und Energieinfrastruktur zu sehen. Felder, Zäune etc. machen die landwirtschaftliche Nutzung des Raumes sichtbar. Im Oberengadin sind Anlagen der Tourismusinfrastruktur dargestellt. Die Aufnahmen von Strassen und Plätzen zeigen das örtliche Kleingewerbe. Industriegebäude sind teilweise als Einzelgebäude und in den Gesamtansichten aus dem Limmattal dokumentiert.
Gesamt- und Teilansichten machen deutlich, wie unterschiedliche Ebenen räumlicher Praxis – wirtschaftliche und gewerbliche Nutzung, Verkehrsinfrastruktur, Wohnbauten – am konkreten Ort aufeinander treffen.

Durchgehendes fotografisches Verständnis von «Ortsansicht»

Die vier Bildkategorien entwickeln eine fotografische Definition von Ortsansicht, ein klar definiertes Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster: Ein Ort wird bestimmt über seine Position in der umgebenden Landschaft (Gesamtansicht), ein Ensemble von charakteristischen Gebäuden, gruppiert um den Kirchturm (Teilansicht), die Haupt- bzw. Dorfstrasse mit Kleingewerbe und Läden (Stadt-/Dorfpartie) und seine repräsentativen Gebäude (Kirche, Bahnhof, Post, Hotel, Restaurant).
Dieses durchgehende Wahrnehmungs- und Darstellungsraster macht eine bestimmte Form der Anordnung von Elementen und Objekten in der Landschaft, von räumlichen Beziehungen sichtbar. Raum ist gegliedert in Dorf – Stadt – Landschaft, Ort und umgebende Landschaft sind klar voneinander getrennt. Jeder Ort ist in sich wiederum gleich strukturiert. Diese räumliche Struktur ist in den Bildern für die gesamte Schweiz gleich dargestellt. Die Anzahl der vorhandenen Bilder pro Gemeinde variiert jedoch stark.
Das durchgehende Wahrnehmungs- und Darstellungsraster ermöglicht den Vergleich von Ortschaften aus verschiedenen Teilen des Landes. Bauweise und Architektur von repräsentativen Gebäuden, die Einbettung von Ortschaften in die Landschaft und ihre Ausdehnung, die Gestaltung und Nutzung von Hauptstrassen und Plätzen können nebeneinander gestellt und betrachtet werden.

Die Fotosammlung zum Thema Ortsansichten enthält vorwiegend Fotografien, die aus dem Produktionskontext der Ansichtskartenfotografie und verwandter Bereiche stammen. Dieser für die Darstellung von Ort und Landschaft zentrale Produktionskontext wird in der bestehenden Sammlung umfassend dokumentiert.

Nach 1945 konzentriert sich die Ansichtskartenfotografie zunehmend auf die touristischen Gebiete der Schweiz. Die Nachfrage nach Ansichtskarten aus dem Mittelland geht zurück, entsprechend werden diese Gebiete weniger häufig fotografiert. Damit werden für die Raumentwicklung nach 1945 wesentliche räumliche Veränderungen wie die Entstehung von Einfamilienhaus- und Blocksiedlungen an den Rändern von Städten und Dörfern, der Ausbau des Verkehrsnetzes oder die Umnutzung der Industriegebiete, nur sehr beschränkt erfasst.